Mercedes-Benz hat in diesem Jahr als erster Autohersteller in den USA angekündigt, ein fortschrittliches Fahrerassistenzsystem zu verkaufen, das es Autofahrer*innen ermöglicht, unter bestimmten Verkehrsbedingungen „eyes-and-hands-free“ zu fahren.
Das Unternehmen strebt jedoch eine noch ausgefeiltere Technologie der Stufe 4 an, die es einem Fahrzeug ermöglichen würde, unter den meisten Bedingungen ohne menschliche Beteiligung zu fahren.
Das Drive-Pilot-System der Stufe 3 von Mercedes, das vorerst nur für den Einsatz in Nevada zertifiziert ist, nutzt Radar, Lidar und andere Sensoren, um ein Fahrzeug in die Lage zu versetzen, die Fahrfunktionen auf Autobahnen bei Geschwindigkeiten von bis zu 65 km/h zu steuern, sodass Fahrer*innen andere Dinge machen können, wie z. B. E-Mails beantworten. Bei dieser Stufe 3 der SAE International-Skala muss ein Mensch aber noch die Kontrolle über das Fahrzeug übernehmen können, wenn das automatisierte Fahrsystem dies verlangt.
Mercedes hat Ende 2021 die behördliche Genehmigung für den Einsatz eines „hands-free“ Fahrsystems in Deutschland erhalten und bietet außerdem seit letztem Jahr den Drive Pilot als Option für die S-Klasse für 5.000 Euro an. Der Drive Pilot ist für eine Strecke von rund 13.000 km auf deutschen Autobahnen bei Geschwindigkeiten von maximal 60 km/h zugelassen, d.h. er wird vor allem im Stau eingesetzt.
Der nächste Schritt
Markus Schäfer, Chief Technology Officer von Mercedes, hält das Erreichen der automatisierten Fahrstufe 4 bis zum Ende des Jahrzehnts für erreichbar. Zudem sieht er einen Markt für freihändiges, automatisiertes Fahren in verstopften Städten, insbesondere in China, wo mehrstündige Staus an der Tagesordnung sind, denn bei der Automatisierungsstufe 4 spielt der Mensch am Steuer keine Rolle mehr.
„Private-owned Level 4 cars, absolutely. This is something that I see in the future […]. Just imagine you are in a big city, and you come from work, and you are sitting for two hours in traffic, and you press the button and go to sleep. There will be a demand for that.“ – Markus Schäfer, Chief Technology Officer Mercedes
Ein solches System kann ein Fahrzeug innerhalb bestimmter geografischer Grenzen oder Wetterbeschränkungen fahren, im Gegensatz zum umfassenden Level-5-System, das unter allen Bedingungen fahren würde.
Alphabets Waymo und General Motors‘ Cruise bieten bereits in bestimmten Gebieten fahrerlose Robotaxi-Dienste an, allerdings mit Fahrzeugen, deren Anschaffung für normale Pendler*innen zu teuer ist. Derweil planen BMW sowie Volvo, die Hardware zunächst zu verbauen, die für das automatisierte Fahren erforderlich wären, und dann die Software entsprechend zu aktualisieren, wenn es die Möglichkeiten und Vorschriften erlauben.
Mercedes arbeitet bereits daran, die Level-4-Technologie auf den Markt zu bringen. 2021 wurde in Deutschland ein Gesetz verabschiedet, das automatisiertes Fahren der Stufe 4 in bestimmten öffentlichen Bereichen erlaubt.
Letztes Jahr erhielten Mercedes und Robert Bosch als Zulieferer in Deutschland die Zulassung für ein vollautomatisches Parksystem für das Parkhaus des Stuttgarter Flughafens, mit dem Autos auf einen reservierten Parkplatz fahren können. Die Software basiert auf der Kommunikation mit Sensoren in der Parklücke, um Hindernisse zu erkennen.
„We want to create a technology package [containing] everything a car needs to become a self-driving vehicle: sensors, cloud-based data processing and other components. We will offer this package to other OEMs as well.“ – Michael Hafner, Mercedes software executive & previously Head of Drive Technologies and Automated Driving
Die Autoindustrie, die von Technologieanbietern wie Nvidia unterstützt wird, strebt eine Welt an, in der man die Hände vom Lenkrad nehmen und die Augen schließen kann.
Das 7er-Flaggschiff von BMW wird in diesem Jahr mit einem selbstfahrenden Level-3-System ausgestattet – die Technologie wird jedoch zunächst nicht in den USA angeboten. „It is real Level 3“, sagte BMW-Technikvorstand Frank Weber im Januar auf der CES in Las Vegas vor Journalisten. „The vehicle is in charge, not the driver.“
Die Hyundai Motor Group kündigte Ende letzten Jahres an, dass sie die Level-3-Technologie in einer neuen Version ihres Highway Driving Pilot Systems für den Genesis G90 einführen werde. Stellantis plant nach eigenen Angaben ab 2024 die Möglichkeit des automatisierten Fahrens „hands-free“ der Stufe 3 in seinen Fahrzeugen, während auch Tesla intensiv am automatisierten Fahren arbeitet. Der Hersteller bietet den Verbraucher*innen bereits die Betaversion eines fortschrittlichen Fahrerassistenzsystems an, das das Unternehmen kontrovers als Full Self-Driving bezeichnet.
Bei Mercedes werden ab der Mitte des Jahrzehnts alle Modelle mit der neuen Mercedes Modular Architecture-Fahrzeugplattform hardwaremäßig in der Lage sein, das assistierte Fahren oder erweiterte Funktionen für das assistierte Fahren zu ermöglichen.
Hohe, wiederkehrende Umsätze erwartet
Die Technologie des automatisierten Fahrens bietet den Automobilherstellern das Potenzial für eine bedeutende und wiederkehrende Einnahmequelle. Britta Seeger, die Vertriebschefin von Mercedes-Benz, geht sogar davon aus, dass automatisierte Fahrsysteme bis 2030 zum größten softwaregestützten Umsatzträger der Luxusmarke werden („largest software-enabled revenue driver“).
Mercedes erwartet, dass der Umsatz mit automatisiertem Fahren von einem niedrigen einstelligen Milliardenbetrag in der Mitte des Jahrzehnts auf einen mittleren einstelligen Milliardenbetrag am Ende des Jahrzehnts ansteigen wird.
Guidehouse Insights prognostiziert, dass bis 2030 weltweit jährlich fast 14 Millionen Fahrzeuge mit automatisierten Fahrsystemen der Stufe 4 verkauft werden, was einem Marktanteil von 12 Prozent entspricht.
Automakers see the technology as „something that consumers will see a value in and be willing to pay extra for“ – Sam Abuelsamid, Chefanalyst bei Guidehouse
Die Automobilhersteller statten ihre Fahrzeuge bereits mit fortschrittlichen Chips, Lidar, Radar und anderer für Level 3 erforderlicher Hardware aus, die in der Lage sind, das automatisierte Fahren in Zukunft zu unterstützen.
Der Anstieg der Materialkosten für Level-4-Systeme im Vergleich zu Level-3-Systemen beträgt etwa 20 bis 25 Prozent, so Abuelsamid. Automobilhersteller werden ihm zufolge für vollautomatisiertes Fahren auf der Autobahn wahrscheinlich 50 bis 100 Prozent mehr verlangen als für die heutigen Systeme mit Fahrassistenz.
Sicherheit geht vor
Natürlich spielen auch Sicherheitsaspekte bei der Entwicklung von Level 4 eine Rolle.
Die Autonomiestufe 3, die die Aufmerksamkeit der Fahrenden erfordert, ist mit Bedenken hinsichtlich der Verantwortlichkeit und der Versicherung behaftet. Expert*innen zufolge sei es eine große Herausforderung, das Spielen von Tetris auf der Autobahn zu erlauben und gleichzeitig zu verlangen, dass die Kontrolle über das Fahrzeug in jedem Moment wieder von der fahrenden Person übernommen werden kann.
Untersuchungen der AAA-Stiftung für Verkehrssicherheit haben ergeben, dass es bis zu 25 Sekunden dauern kann, bis man sich wieder auf das Fahren konzentrieren kann und vollständig fahrbereit ist. „Handing the controls back to the driver is very challenging“, sagte Greg Brannon, Direktor für Automobiltechnik und Industriebeziehungen bei AAA, auf einer Branchenkonferenz im vergangenen Jahr.
Deswegen haben einige Branchenexpert*innen die Automobilhersteller aufgefordert, Level 3 zu überspringen und sich auf das stärker automatisierte Level 4 zu konzentrieren. Doch die Entwicklung von Fahrzeugen, die wie Menschen denken und fahren, bleibt eine große technische Herausforderung, denn das Manövrieren im komplexen Stadtverkehr mit Fahrzeugen, Fußgänger*innen und Radfahrenden erfordert fortschrittliche Sensortechnik und Systemredundanz.
„Proving the automated system’s safety and reliability is the hard part. […] It’s all about the edge cases because that’s where the crashes happen.“ – Sam Abuelsamid, Chefanalyst bei Guidehouse
Quelle: Automotive News Europe: Mercedes says Level 4 driving ‚doable‘ this decade.