Dr. Mario Herger, Gründer des Beratungsunternehmens Enterprise Garage, stand als Experte rund um das Thema autonomes Fahren, in dieser Folge des Drive.AI-Podcast zur Verfügung. Im Detail haben wir uns mit dem Disengagement Report aus 2022 auseinandergesetzt. Dieser zeigt auf, wie viele Disengagement es bei Unternehmen im Umfeld des autonomen Fahrens es gab.
Ein Disengagement wird hierbei als das Ereignis beschrieben, bei der das autonome Fahrzeug entweder nicht mehr weiter wusste und die Kontrolle an einen im Fahrzeug anwesenden Sicherheitsfahrer übergab, oder wenn ein Sicherheitsfahrer die Kontrolle selbst übernahm. Beispielsweise dann, wenn das Fahrzeug dabei war einen Fehler zu machen oder aus einer Verkehrssituation nicht mehr herausgefunden hätte. Dabei obliegt es dem Lizenznehmer, der seine autonomen Shuttles auf die Straße bringt, ein entsprechendes Disengagement entsprechend zu werten und einzuordnen.
Kurzer Einschub: Wer mehr über Mario erfahren möchte, dem kann ich die erste Folge des Drive:AI Podcast ans Herz legen, in diesem haben wir uns ein wenig über seinen Werdegang ausgetauscht, bevor wir auf das nicht lineare Wachstum des autonomen Fahrens zu sprechen gekommen sind.
Mario konzentriert sich seit 2015 auf die Auswertung der Reports der kalifornische Verkehrsbehörde DMV und kann hierdurch in seinen Artikel, als auch in unserem Gespräch, entsprechende Verknüpfungen zu den vorherigen Jahren ziehen. Uns wird es aus seinen Erkenntnissen und den publik gemachten Fakten möglich, einen Blick darauf zu werfen, wie das Thema autonomes Fahren sich in den Vereinigten Staaten von Amerika, im Speziellen in Kalifornien, entwickelt.
Im Detail wird uns Mario abholen, mehr dazu erläutern und dann verstehen wir das Thema am Ende der Folge besser. Insofern reinhören, lernen und eine positive Bewertung am Ende der Folge da lassen, wenn du den möchtest!
Gerne kannst du uns auch Fragen zum autonomen Fahren per Mail zukommen lassen, welche dich im Alltag beschäftigen. Die Antwort darauf könnte auch für andere Hörer des Podcasts von Interesse sein. Wie immer gilt: Über Kritik, Kommentare und Co. freuen wir uns. Also gerne melden, auch für die bereits erwähnten Themenvorschläge. Und über eine positive Bewertung beim Podcast-Anbieter deiner Wahl freuen wir uns natürlich auch sehr! Vielen Dank.
Transkript zu „Im Gespräch mit Dr. Mario Herger über Disengagement Report 2022“
Sebastian
Servus Mario. Vielen Dank, dass du dir heute mal wieder die Zeit nimmst, dass wir uns über das Thema „Autonomes Fahren“ unterhalten. Mittlerweile die dritte Aufzeichnung hier für den Drive.AI-Podcast. Und in dieser Folge wollen wir uns dem sogenannten Disengagement Report widmen, den es zumindest bei dir auf der Seite derletztefuehrerscheinneuling.com bereits seit 2015 genauer beobachtet wird. Vielleicht magst du uns zu Beginn mal abholen und darüber aufklären, was der Disengagement Report, Disengegament-Bericht eben überhaupt ist.
Dr. Mario Herger
Ja. Danke Sebastian auch für die Einladung. Der Disengagement Report ist etwas, was in Kalifornien verpflichtend ist für Unternehmen, die eine Genehmigung haben, autonome Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen zu testen. Man muss dazu wissen, dass man mit Google, eine der ersten Firmen, 2009 begonnen hat, autonome Autos auf öffentlichen Straßen zu testen. Und da hat dann die Verkehrsbehörde, das Department of Motor Vehicle von Kalifornien, ein Lizenzprogramm ausgerichtet und erstellt. Und da gibt es gewisse Anforderungen, die Inhaber einer solchen Lizenz oder diejenigen, die so eine Lizenz haben möchten, erfüllen müssen.
Es beginnt zuerst einmal, dass sie eine Versicherung haben müssen mit einer bestimmten Höhe, dass sie einen Sicherheitsfahrer drinnen haben, der auch entsprechend geschult ist, also jemand, der die Kontrolle übernehmen kann über das Fahrzeug, wenn es in einem autonomen Modus fährt. Und eines der Anforderungen ist, auch Berichte abzuliefern. Und zwar, wenn es zu Kollisionen kommt mit einem autonomen Fahrzeug, da gibt es sogar ein eigenes Formular für autonome Autos mit Kollisionen und eben den sogenannten Disengagement Report. Der Disengagement Report muss einmal im Jahr abgeführt werden. Das geschieht normalerweise, die Deadline ist Ende November jedes Jahres. Und die Zahlen von allen Unternehmen, die diesen Bericht abgeliefert haben an den DMV, werden dann Anfang Februar typischerweise veröffentlicht.
So, und seit ungefähr 2015, glaube ich, ist der erste dieser Berichte erschienen, damals noch mit ganz wenigen Inhabern von so einer Lizenz. Wir reden davon weniger als einem Dutzend Unternehmen. Und in der Blütezeit, also dort, wo die größte Anzahl gleichzeitig war, hatten wir über 70 Unternehmen, die parallel so eine Lizenz gehalten haben. Aktuell, also vor etwa einen, zwei Monaten, ist der Bericht für das Jahr 2022 erschienen, der Disengagement Report. Und da sind vor allem folgende Zahlen drinnen, die interessant sind. Nämlich: Wie viele Autos haben die Hersteller auf den Straßen? Wie viele Kilometer sind sie gefahren? Und wie viele sogenannte Disengagement gab es?
Und ein Disengagement ist etwas, wo ein Eingriff durch den Sicherheitsfahrer erfolgt. Und zwar, wenn bei Beispiel der Computer an Bord mit einer Situation nicht umzugehen weiß und die Kontrolle an den Fahrer übergibt, das wird als Disengagement gezählt. Beziehungsweise, wenn der Sicherheitsfahrer überzeugt ist, dass das Fahrzeug gerade so einen Fehler machen wird und die Kontrolle übernimmt und sozusagen die Kontrolle zurück übernimmt von dem Fahrzeug, das wird als Disengagement gezählt. Jetzt müsste das doch sowieso ganz klar sein. Na ja, so ganz klar ist jetzt nicht, was ein Disengagement ist, weil oft manchmal ein Sicherheitsfahrer übervorsichtig ist und lieber eingreift, als das Auto die Situation bewältigen zu lassen. Und deshalb bei den Unternehmern noch einmal intern werden diese Daten eingespielt auf den Simulatoren und noch einmal nachgespielt und geschaut: Hätte sich das Fahrzeug richtig verhalten oder nicht?
Und wenn es sich ihrer Meinung nach richtig verhalten hätte, also der Eingriff unnötig war, dann wird dieses Disengagement aus der Liste gelöscht. Das heißt, die Bestimmung darüber liegt dann bei den Unternehmen und nicht so sehr beim DMV. Das heißt, manche sind vorsichtiger, manche sind da weniger vorsichtig. Vielleicht ist vorsichtig das falsche Wort. Manche zählen auch Disengagements, wo es wahrscheinlich nicht zu einer Kollision oder zu einem Fehler gekommen wäre, eben nicht als Disengagement. Andere wiederum schon. Damit gibt es natürlich hier in den Daten ein paar Unterschiede.
Mit diesen Worten möchte ich aber auch sagen, dass so ungenau, so kritisch wir diese Daten betrachten müssen, sind die einzigen Daten, die es weltweit gibt, die öffentlich vorliegen zu einer so großen Anzahl von Unternehmen, die autonome Autosoftware für die Straßen testen. Und wenn wir jetzt gegenüberstellen, beispielsweise wie viele Kilometer die Fahrzeuge in diesen Flotten gefahren sind versus wie viele Disengagements es waren, dann können wir so eine Durchschnittszahl pro Flotte herausbekommen, wie lange so ein Auto fahren kann, bis es zu einem Eingriff kommt. Und das unterscheidet sich sehr stark von den einzelnen Herstellern und hat auch eigentlich mit der Entwicklungszeit und den Aufwänden, die dahinterstecken, zu tun.
Sebastian
Vielen Dank, dass du uns da so inhaltlich abgeholt hast, dass wir da ein Verständnis dafür bekommen, was sich dahinter verbirgt. Bevor wir da jetzt ein Stück weit tiefer vielleicht auf die Zahlen eintauchen oder dieses Verhältnis, wo jetzt auch gesagt hast, Disengagement-Eingriffe zu den gefahrenen Kilometern, eingehen, kurze Frage dazu zum Verständnis. Das heißt, wenn ich diesen Disengagement Report als Anbieter nicht abgeben würde, wird mir meine Lizenz zum autonomen Fahren entzogen, aber diesen Bericht, den ich da verfasse, den kann ich selbst, manipulieren ist vielleicht ein hartes Wort, aber kann ich dementsprechend auch schon ein Stück weit auslegen, was als Disengagement gewertet wird oder eben nicht?
Dr. Mario Herger
Nach bestem Wissen und Gewissen, was ich als Disengagement verstehe. Und natürlich, man muss dazu sagen, das ist nicht, dass jetzt hier die Hersteller versuchen, sich da schöner zu machen, als sie sind. Es ist nicht wirklich leicht, zu definieren, was als Disengagement zu zählen ist. Nämlich Disengagement, ich bringe ein Beispiel aus der Vergangenheit: Zum Beispiel, die Verkehrsbehörde hatte die Ansicht, dass ein Fahrzeug, das scharf bremst, also wirklich durch quietschende Reifen zum Stillstand kommt, einen Fehler gemacht hat, weil so ein spontanes Stoppen sollte nicht vorkommen. Und dann hat man die Regulatoren mitgenommen und man saß im Fahrzeug und es fuhr entlang von geparkten Fahrzeugen und dann öffnet jemand die Autotür und das Fahrzeug muss eine Vollbremsung einlegen.
Und dann haben die Regulatoren gesehen: „Oh wow. So wie wir das definiert haben, stimmt das Ganze. Das Fahrzeug hat hier absolut richtig reagiert, genauso wie wir es wollen.“ Es hat das Fahrzeug sicher zum Stehen gebracht und den Unfall vermieden. Das heißt, eine Vollbremsung in diesem Fall macht absolut Sinn. Es ist nicht etwas, wofür wir die Firma oder das Fahrzeug bestrafen möchten. Ganz im Gegenteil: Es hat genauso reagiert, wie es soll. Und bei Disengagement ist es ähnlich, dass es Situationen gibt, wo ein Disengagement absolut Sinn macht und nicht negativ oder wo kein Disengagement vorliegt, sondern das Fahrzeug absolut richtig unterwegs war. Und ich glaube, das ist etwas, was wir hier berücksichtigen müssen.
Sebastian
Und das berücksichtigen an sich auch die Firmen. Die achten, genauso wie du das eben auch erläutert hast, anhand ihrer Daten dann auch darauf, dass solche Themen dann wahrscheinlich auch rausgefiltert werden. Zum anderen natürlich erst mal Chapeau, damit die Regulatoren da auch mitgefahren sind und sich selbst davon überzeugt haben, um eben auch zu sehen, dass so was nicht ein Verstoß ist. Ich meine, da gibt es gerade Deutschland wahrscheinlich genügend Schreibtischattentäter, die dann nur hier dahinter sitzen und dann trotzdem das werten. Also von daher schon mal sehr positiv zu werten, dass man sich es vor Ort auch anschaut.
Dr. Mario Herger
Also gerade zu dem Thema auch: Wir sehen ja auch hier, dass natürlich alle lernen. Es ist nicht nur die Hersteller dieser Fahrzeuge, die Entwickler dieser Fahrzeuge lernen, sondern auch die Regulatoren. Nämlich: Wie zertifiziere ich tatsächlich so ein Fahrzeug? Wie teste ich so ein Fahrzeug? Wenn man das bei uns vergleicht, bei der TÜV: Wie würde der TÜV so ein Fahrzeug zertifizieren? Was muss er da für Testszenarien haben? Was ist da zu erwarten? Und das kann man nicht im stillen Kämmerchen für sich selbst entwickeln, sondern das muss man eben aus der Praxis nehmen.
Ein Beispiel, wie wenig wir davon Ahnung haben, ist immer diese Frage, die hochkommt zum Thema „Trolley-Problem“: Wen soll das Fahrzeug töten? Die Oma oder das Baby? Das ist ein völlig irrelevantes Problem. Das kommt in der Praxis überhaupt nicht vor. Damit sollten wir uns gar nicht beschäftigen, weil es wirklich irrelevant ist. Es gibt wichtigere Probleme, nämlich: Wie viel Abstand halte ich von einem Fahrrad? Fahrrad zum Beispiel. Das ist viel relevanter, praxisnäher. Wir sehen es hier an der Stelle, dass natürlich Kalifornien als Vorreiter, dort wo die meisten Unternehmen unterwegs sind, auch die meisten Fahrzeuge unterwegs sind, hier die Regulatoren natürlich massiv lernen und auch die Öffentlichkeit lernt.
Wenn wir unter anderem Aufnahmen von öffentlichen Transporten sehen, also von Verkehrsmitteln wie Bussen und Straßenbahnen, die Interaktion mit solchen Fahrzeugen haben, sieht man auch, dass insbesondere diese Fahrzeuge viel weniger Probleme verursachen als menschliche Fahrer, die in zweiter Spur parken und einen Bus blockieren. Und das erzähle jetzt an Ergebnissen. Gerade ist jetzt ein Ergebnis gewesen, man wollte eigentlich zeigen, wie viele Probleme diese Fahrzeuge schaffen, diese autonomen Fahrzeuge. Da stellt sich heraus, das ist gar nicht wahr. Die menschlichen Fahrer verursachen viel, viel mehr Probleme für öffentliche Verkehrsmittel zum Beispiel.
Sebastian
Das ist aber genau das oder jeder, der sich mit dem Thema „Autonomen Fahren“ ein Stück weit beschäftigt, das ja eigentlich schon auf dem Schirm hat, dass eher der Mensch das Problem ist und nicht die Software, die dann ja auch funktioniert und miteinander interagiert. Jetzt gehen wir vielleicht mal auf die Zahlen da doch ein. Also was man gesehen hat oder an den Fahrzeugen, sehe ich jetzt auf den ersten Blick, dass Waymo gut 700 Fahrzeuge am Start hat in Kalifornien, Cruise 388, Zoox dann 142. Sprich, also im Umkehrschluss, werden das wahrscheinlich auch die Marken sein, die am meisten Erfahrungen sammeln im Moment auf dem Markt und dann eben auch für sich entsprechende Fortschritte mit ihrer Technologie machen.
Dr. Mario Herger
Ja. Je mehr Fahrzeuge man hat natürlich, umso mehr Erfahrungen und rascher sammelt man das. Man muss das auch so sehen: Es gibt sehr viele dieser Randszenarie, dieser kaum vorkommenden Ereignisse und die bekommt man nur dann auf dem Bildschirm, wenn man viel fährt. Da gibt es ja ganze Videokompilationen von solchen Begegnungen, merkwürdigen Begegnungen, überraschenden Begegnungen, die sehr selten vorkommen, wo man aber möchte, dass natürlich das Fahrzeug korrekt reagiert oder sicher reagiert, sagen wir es einmal so. Und auch wenn man die Situation nicht versteht, auch als Mensch manchmal nicht versteht, das Fahrzeug, man möchte, dass es sicher reagiert und dann vielleicht einen Plan B findet, wie es aus dieser Situation herauskommt.
Du hast gesagt, du hast schon ein paar Zahlen angesprochen. Ja, das sind die Unternehmen mit der größten Anzahl an Fahrzeugen. Insgesamt haben die knapp etwas mehr als 40 Hersteller, die berichtet haben, über 1.500 Fahrzeuge in Kalifornien auf den Straßen. Das ist doch jetzt fast 30 % mehr noch als im letzten Jahr gewesen, also 2021 im Bericht. Das sind nur die Zahlen in Kalifornien natürlich. Das heißt, wir haben, glaube ich, doppelt so viele insgesamt wie in den ganzen USA, die unterwegs sind. Also wir haben ja andere Bundesstaaten auch, in denen gefahren wird, massiv gefahren wird. Und zwar haben mehr als die Hälfte der Bundesstaaten ähnliche Regulierungen. Es versucht jeder natürlich diese Industrie ein wenig anzusiedeln und zu hoffen, dass da neue Wirtschaftszweige entstehen, aber die Hotspots sind sicherlich Kalifornien mal an erster Stelle.
Dann hast du Nevada und Arizona, wo viel gemacht wird, dann natürlich Michigan, dort wo die ganzen großen Automobilhersteller sind. Florida, aber auch Texas. Texas, Lkws gerade dort, weil dort, interessanterweise gibt es im Gesetzestext keinen Verweis auf einen menschlichen Fahrer. Das heißt, alles, was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt. Und wenn da nichts drinnen steht, dass ein Mensch da drinnen sitzen muss in dem Lkw, dann kann da auch ein Computer die Steuerung übernehmen. Und deshalb wird dort viel, was Lkw-Bereich ist, getestet. Aber in Kalifornien haben wir 1.507 Fahrzeuge, die von den Herstellern gelistet worden sind.
Sebastian
Insofern wirst du dort ja auch eine entsprechende belastbare Aussage machen können. Und da habe ich jetzt eben gesehen, diese Kennzahl Kilometer bis Disengagement, die du ja auch aufgegriffen hattest in deiner Einleitung, da ist Cruise, die ja auch bei der Insgesamt-Anzahl der Fahrzeuge relativ weit vorn sind, haben die jetzt hier da in der Aufstellung oder den Daten, die du ausgewertet hast zu folgen, können die knapp 153.000 Kilometer fahren, bis der erste Eingriff sozusagen erfolgt. Ein Waymo, der mit den zweitmeisten Fahrzeugen auf dem Markt ist, kommt nur 27.000 Kilometer ungefähr weit, bis so ein Eingriff ist. Also demnach ist da auch schon eine Diskrepanz zu sehen, wie weit die Fortschritte bei den jeweiligen Herstellern sind in Bezug auf die Software, denke ich mal.
Dr. Mario Herger
Wenn wir reden von über 150.000 Kilometern pro Jahr, also 150.000 Kilometer pro Disengagement, lassen wir uns das einmal interpretieren, was das bedeutet. Gehen wir davon aus, wie viel ein Mensch pro Jahr fährt. Also, ich weiß nicht. In Europa rechnet man, 15.000 Kilometer als Fahrer fährt man pro Jahr. Das heißt, ein Cruise würde zehn Jahre lang fahren, bevor es den ersten Eingriff eines menschlichen Fahrers benötigt.
Und das vielleicht noch einmal, um das auch in Relation zu stellen, Cruise fährt aktuell in Kalifornien nur in San Francisco und San Francisco ist keine einfache Stadt. Das ist zwar auch mit einem regelmäßigen Raster ausgelegt, eine Stadt, so wie viele amerikanische Städte, aber es ist sehr hügelig. Es gibt sehr, sehr viele andere Sachen. Man darf oft nicht links abbiegen. Da muss man um den Häuserblock herumfahren. Es ist sehr nebelig, oft regnerisch in dieser Stadt. Da gibt es also gewisse Herausforderungen, die man hat. Und in manchen Gegenden natürlich auch sehr, sehr dichter Verkehr. Fußgängerverkehr sehr, sehr viel.
Und auch gerade ist San Francisco durch die Pandemie ganz, ganz stark durchbeutelt worden. Viele Menschen gehen gar nicht mehr in die Stadt hinein zum Arbeiten. Also es ist nur ein Drittel der Menschen, die vorher in die Büros gegangen sind, ist aktuell in den Büros. Und das hat dazu geführt, dass es momentan zu einer gewissen Verwahrlosung der Stadt kommt. In manchen Gegenden, wo viele Obdachlose, Drogensüchtige, Menschen mit mentalen Problemen auf den Straßen herumhängen, viele Geschäfte geschlossen sind. Also eine völlig eigene Situation noch einmal mit Verkehrsteilnehmern, die völlig irrational sich auf den Straßen bewegen.
So, die Frage ist jetzt: Stimmt das, diese 160.000, 150.000 Kilometer? Und da würde ich sagen, also vor allem, wenn ich dann auch noch einmal schaue, wie groß dieser Sprung ist im Vergleich zum letzten Jahr, im letzten Jahr kam Cruise auf, ich glaube, 66.000 Kilometer pro Disengagement. Das ist mehr als eine Verdoppelung in nur einem Jahr. Und das erscheint mir doch etwas gestretched, also gedehnt, wie das hier berechnet wird. Ich glaube also nicht, dass die Fahrzeuge da zehn Jahre lang ohne einen Eingriff fahren können. Speziell, wenn ich bedenke, dass ich jetzt fast 100-mal mit solchen autonomen Fahrzeugen fahrerlos gefahren bin und da gibt es doch auch Remote-Eingriffe, also sprich, es wird durch Texteingabe dem Fahrzeug aus einer Situation geholfen. Und da ist vielleicht doch jede dritte oder fünfte Fahrt von diesen fünf bis zehn Minuten, die man damit fährt, sieht man diese Meldung am Bildschirm, dass das doch noch jemand überwacht und dem Fahrzeug hilft.
Das heißt, das würde ich doch etwas mit Vorsicht genießen und nicht so auf die Waage legen. Vielleicht sagt das einfach nur, dass diese Eingriffe, wie ich sie erlebe, etwas anderes zu tun haben. Das Fahrzeug hätte es wahrscheinlich gelöst, ohne Probleme, aber zu langsam, wenn man mit Passagieren drinnen ist. Das heißt, zwei Minuten da herumzuckeln, bis das Fahrzeug durch diese enge Stelle durchkommt, ist vielleicht nicht das, was man als Passagier erwartet, sondern man möchte, dass ein Mensch da mithilft, der sagt: „Okay, du kannst da fahren, ohne dass etwas passiert.“ Und ich glaube, das ist auf diese Weise zu sehen.
Trotzdem sind diese definitiv beeindruckend, selbst wenn das nur ein Zehntel wären. Ein Jahr lang fahren können, ohne menschlichen Eingriff, ist immer noch wahnsinnig beeindruckend. Und wenn man sich dann anschaut, noch einmal die Abstände zu anderen Herstellern, also beispielsweise nehmen wir einen deutschen Hersteller, Mercedes-Benz, ist da einer der wenigen, der noch solche Sachen berichtet oder auch tatsächlich Tests macht in Kalifornien, die dieses Jahr berichtet haben, 2.231 Kilometer pro Disengagement. Also das ist ein Siebzigstel sozusagen, was die nur schaffen. Dabei haben die aber schon einen großen Sprung gemacht, weil noch vor zwei, drei Jahren haben sie alle zwei, zweieinhalb Kilometer noch einen Eingriff gebraucht bei Mercedes.
Das ist ein Abstand in der Entwicklungszeit von fünf bis sieben Jahren. Das heißt, das sind Ewigkeiten in der Softwareentwicklungswelt. Das ist mehr oder weniger Urgroßelterntechnologie. Wenn man alle ein, zwei Jahre ein neues Handy hat, dann kann man sich schon vorstellen, was das bedeutet hier bei Software für autonomes Fahren.
Sebastian
Das stimmt, das ist besonders spannend. Dann im Hinblick darauf hatten wir in einer der ersten Folgen, wie stark eben doch der Unterschied zwischen amerikanischen Herstellern ist, die jetzt eben ihren Hauptfokus auf autonomes Fahren dann legen und eben Automobilherstellern, klassischen, die das jetzt für sich als zusätzliche Technologie mit auserkoren haben, aber vielleicht gar nicht, zumindest nach außen getragen, mit der Ernsthaftigkeit als kompletten Umbruch der Mobilität sehen, wie er denn auch tatsächlich ist.
Dr. Mario Herger
Ich meine, auch hier noch einmal vielleicht die Meldungen der letzten Wochen und Monate. Ich meine, Mercedes, der CEO war ja erst im Silicon Valley und hat dort angekündigt, dass sie jetzt die Software von Google verwenden werden, also Google Carplay, oder Apple Play und wie sie auch immer heißen. Also das ist eine Zusammenarbeit. Und Volkswagen ähnlich. Die kämpfen ja massiv mit ihren eigenen Betriebssystementwicklungen und ich rede da nur von der Betriebssoftware. Ich rede da gar nicht von autonomer Software, also der autonomen Betriebssystemsoftware, sondern des einfachen Entertainments, Unterhaltung, Steuerung des Fahrzeugs etc.
Und das macht ihnen schon massiv zu schaffen, dass sie da nicht schnell genug dorthin kommen, was man erwarten würde, vor allem, was man sich als Kunde erwartet als Fahrer, Fahrerin des Fahrzeuges. Und dann kann man sich vorstellen, wie schwierig das sein muss erst für autonomes Fahren, wo noch einmal das eine ganz andere Liga ist, wo man noch einmal ganz andere Technologie, also ganz andere Software-Stacks verwendet. Auf der einen Seite noch diese Car-Betriebssoftware ist im klassischen Sinne Software, während autonomes Fahren ist künstliche Intelligenz, also KI, die hier verwendet wird, Maschinenlernen, das noch einmal ein anderes Biest darstellt. Das ist mehr oder weniger Newtonsche Mechanik versus Relativitätstheorie. Das heißt, dass eine ist deterministisch, das andere stochastisch. Und hier ist es detto.
KI ist das Stochastische an der Stelle, also mit Wahrscheinlichkeiten, mit neuronalen Netzwerken, das gerade in der Entwicklung ist und da sind auch die eigenen Prozesse gar nicht dafür aufgestellt und auch die Prozesse der Regulierer nicht. Das ist mehr zu verstehen wie Impfungen. Da gibt es auch Wahrscheinlichkeiten, wie gut eine Impfung funktioniert. Das heißt, da muss man das anders betrachten. Diesen Sprung zu machen, ist sehr schwierig. Es ist ganz klar, dass unter anderem Unternehmen, die selbst Erfahrung mit Betriebssystemen, Betriebssoftware haben, wie Microsoft und die Googles und die Apples dieser Welt, Vorteile haben.
Und nicht nur das. Sie haben auch natürlich eine Entwicklergemeinschaft, Communities. Das heißt, sie haben Millionen von Entwicklern und Softwareentwicklern, die heute schon ihre Entwicklungswerkzeuge einsetzen und Software auf diesen Applikationen bauen und auf diesen Betriebssystemen bauen. Und das ist ein unwahrscheinlicher Vorteil. Da kann ich natürlich viel rascher skalieren. Und wenn man daran denkt, dass ein Auto in Zukunft auch eine App Store haben wird und auf diesem Betriebssystem, was gebaut wird, dann hat ein traditioneller Hersteller, dessen Fokus, dessen Expertise im Bau des physischen Objektes liegt, natürlich hier immer einen Nachteil. Und in einer Zeit, wo das sehr, rasant entwickelt werden muss, dann schafft man das fast gar nicht. Und man bekommt auch gar nicht die Leute vermutlich ran und ist auch gar nicht fähig, diese Gehälter zu zahlen, die gerade auch Karriereexperten, Datenanalysten verlangen können heute, weil das so eine rare Fähigkeit ist.
Sebastian
Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, wie du sagst. Das ist ja jetzt eine Sache, weil ich Software verstanden habe und mir da einfach ein Stück Hardware noch mit dazu zu stellen, wo ich das reinbringe. Oder ich kann gut Hardware, wie jetzt etwa VW, und bekomm es mit der Betriebssoftware nicht hin. Das kann ich gerade sagen. Ich werde in dem ID.4 jetzt hier stehen und das macht nicht so viel Freude und ich bin ja autonom mit gefahren.
Also ich wollte nur von A nach B fahren und ein Navi ein bisschen bedienen und hatte da schon meine Herausforderungen. Also von daher eigentlich ganz gut, dass die Hersteller da auch ein Stück weit über den Tellerrand schauen und sich die Expertise eben holen von Unternehmen, die eine Ahnung haben oder die entsprechend unterwegs sind. Um das Thema „Disengagement Report“ vielleicht noch kurz abzuschließen: Von diesen Unternehmen, die dort abgeben, habe ich gesehen, sind sieben Unternehmen eben auch, die eine rein fahrerlose Lizenz haben. Magst du da vielleicht noch ein paar Worte dazu verlieren, was es damit auf sich hat?
Dr. Mario Herger
Wie zuvor besprochen, Kalifornien ist am weitesten voran mit den Erfahrungen zu solchen Fahrzeugen. Es gibt also mehrere Schichten, mehrere Klassen von Lizenzen. Die erste Lizenz, über die wir jetzt gerade gesprochen haben, ist mehr oder weniger mit einem Sicherheitsfahrer an Bord, der vorgeschrieben ist. Es gibt dann aber auch noch weitere Klassen von Lizenzen, wo man dann ohne Fahrer fahren darf. Das heißt, das Fahrzeug kann leer auf der Straße fahren. Und da wird dann eingeschränkt, wie viele Fahrzeuge da fahren dürfen, zu welchen Wetterbedingungen, zu welchen Tages- und Nachtzeiten und in welchen Straßenzügen, in welchen Gegenden.
Und da gibt es aktuell sieben Unternehmen, die so eine Lizenz haben. Es waren schon einmal acht, eine hat es verloren. Und das sind so Unternehmen wie Apollo, Cruise, Waymo, WeRide, Nuro zum Beispiel. Zoox, glaube ich, ist auch darunter als eines der Unternehmen. Und Nuro beispielsweise macht absolut Sinn, weil das machen Lieferroboter, die auf Straßen fahren. Da kann gar keiner drinnen sitzen. Das muss also fahrerlos sein. Dann gibt es auch so lustige Anekdoten wie zum Beispiel Vorschriften. Die amerikanische Verkehrssicherheitsbehörde besagt beispielsweise, dass Rückspiegel auf solchen Fahrzeugen sein müssen für den Fahrer. Das heißt, man fährt so einen Roboter dann herum, einen Kühlschrank groß, mit einem Rückspiegel angebracht, obwohl niemand drinnen sitzt, aber das sind natürlich Dinge, die jetzt auch angepasst werden, die man natürlich auch lernt.
So, und diese Fahrerlosenberichte – kommen wir wieder zu den Fahrerlosenberichten zurück –, das sind sieben, die fahren, und fünf haben berichtet, dass sie auch tatsächlich Kilometer abgespult haben, nämlich Apollo. Also von Baidu, das ist das autonome Betriebssystem von Baidu, Cruise, Nuro, Waymo und WeRide. Waymo ist diese Google-Schwesterfirma. Da sind die mit über 500, also genau 555 Fahrzeugen sind da fahrerlos auf den kalifornischen Straßen herumgefahren. Die größten Einzugsgebiete haben Waymo und Cruise.
Die Waymo fährt dann in San Francisco von einem Drittel der Stadt bis zur ganzen Stadt und das ist jetzt das fahrerlose Fahren. Und dann kommen noch die weiteren Schichten hinzu. Nämlich darf ich Passagiere mithaben, die also extern sind, und darf ich Geld dafür verlangen, für diese Fahrten, also dass man da Taxigeld bezahlt, Fuhrlohn bezahlt. Und da kommt, dann kommt noch eine weitere Behörde hinein. Und Cruise und Waymo haben beide jetzt die Lizenzen, dass sie das dürfen. Also sie haben diese acht Schichten da durchschritten und dürfen in San Francisco mit Passagieren fahrerlos unter gewissen Zeiten, gewissen Wetterbedingungen, in einer gewissen Gegend fahren und dafür auch Geld verlangen. Und tatsächlich, vielleicht noch eine Zahl dazu, fast eine Million Kilometer sind sie gefahren in dem Jahr. 997.930. Es fehlen mehr, über 2.000 Kilometer, um auf die Million zu kommen. Das heißt, eine Million Kilometer sind die fast gefahren, fahrerlos, in der Öffentlichkeit.
Sebastian
Und das ist mal eine Ansage. Genau auf die Zahl wollte ich eben auch noch mal kurz abziehen, weil das innerhalb eines Jahres dann sozusagen ist ja eine Ansage und das auch in Anführungsstrichen nur mit 555 Fahrzeugen, das muss man ja auch erst mal schaffen und da sieht man ja auch schon, was für eine gewisse Auslastung dann eben möglich ist damit. Insofern, ich glaube, dann haben wir einen guten Überblick über diesen Disengagement Report bekommen. Ich habe jetzt auch hier schon wieder genügend Anstöße für die nächsten Gespräche mit dir mitgenommen. Aber ich glaube, das lassen wir die Hörer und Hörerinnen jetzt erst mal verdauen ein Stück weit, lernen da alles und freue mich da auf den nächsten Austausch mit dir, Mario. Vielen Dank für deine Zeit.
Dr. Mario Herger
Danke, Sebastian.